Hirtenbrief zur Fastenzeit

Versöhnung leben – 2023 aktueller denn je!
Neuauflage „Weil Gott JA zum Menschen sagt“

Versöhnung leben – 2023 aktueller denn je!
Am Beginn der Fastenzeit vor drei Jahren hat uns der Ausbruch der Covid-19 Pandemie überrascht. Nach einer anfänglichen Solidarität mit
den schwächsten Mitgliedern der Gesellschaft hat sich leider zunehmend das Klima des Zusammenhalts verschlechtert – bis hinein in
Freundeskreise und Familien. Verbitterte Auseinandersetzungen führten zu Kränkungen und Brüchen von Beziehungen. Umso wichtiger ist, was ich bereits im Hirtenbrief 2020 formuliert habe: Nur durch Versöhnung gibt es Heilung und neue Lebensqualität! Jeder von uns ist gefragt. Die zweite negative Überraschung haben wir genau vor einem Jahr erlebt: Mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine ist der Dämon des Krieges nach Europa zurückgekehrt. Die Auswirkungen dieser Katastrophe sind nicht abschätzbar. Ohnmacht und Ängste machen sich breit, auch Nervosität und
Gereiztheit. Aggressionen schaukeln sich auf. Umso wichtiger wäre es, geduldiger miteinander umzugehen. Oft braucht es nur ein einfaches Wort
oder ein Entgegenkommen, sodass Begegnungen wieder gelingen. Entschuldigung und Vergebung ermöglichen einen wirklichen Frieden!
Mit der Neuauflage des Hirtenbriefes 2020 lade ich alle Haupt- und Ehrenamtlichen, alle Priester, Diakone und für die Seelsorge engagierten
Laien ein, das Thema „Versöhnung“ in der vor-österlichen Bußzeit in den Mittelpunkt zu stellen. Es ist mehr als nur irgendein Thema! Es ist die Mitte unseres christlichen Glaubens: Durch den Tod und die Auferstehung Jesu wurde uns ein neuer Anfang geschenkt. Keine Schuld, kein Versagen, keine Verurteilung gilt für immer! Nehmen wir uns diese Gewissheit zu Herzen und engagieren wir uns großzügig im „Dienst der Versöhnung“ (2 Kor 5,18) – persönlich, pfarrlich, gesellschaftlich.
Bischof Hermann, Fastenzeit 2023

Weil Gott JA zum Menschen sagt
Kirche im Dienst der Versöhnung

Liebe Schwestern und Brüder!
Was zählt am Ende eines Lebens? Mit Sicherheit nicht der Kontostand oder die stolzen Leistungen, sondern einzig und allein die Frage, ob
jemand im Frieden ist – mit sich, mit anderen, mit dem Leben und mit Gott. Unversöhnlichkeit und das Nicht-Vergeben führen zu großem Leid für alle Beteiligten. Dasselbe gilt für alle Lebensphasen. Viel Freude, Lebenskraft und Kreativität gehen verloren, wenn die Altlasten von Schuld, Kränkung und Verbitterung nicht abgebaut werden. Nur durch Versöhnung gibt es neue Lebensqualität. Versöhnung ist auch ein herausfordernder Dauerauftrag für uns als Kirche – weltweit und vor Ort in den Pfarren und kirchlichen Gemeinschaften. Es geht um weit mehr als nur um ein frommes Thema, das mit ein paar Andachten oder Vorsätzen erledigt wäre. Wir müssen umkehren zu einer neuen, herzhaften Beziehung zu Gott und zu einem entschiedenen JA zum Leben – mit all seiner Schönheit und Brüchigkeit.
Am Anfang steht die Dankbarkeit
Dankbarkeit schafft eine Atmosphäre, die alle Lebensbereiche positiv verändern kann. Wer nicht dankt, wird zunehmend fordernder und
unzufriedener. Nichts genügt mehr. Undankbarkeit ist eine Hauptsünde unserer Wohlstandsgesellschaft. Sie schreit zum Himmel angesichts des
bedrohlichen Zustands unserer Erde, die wir mit unserem unmäßigen Lebensstil weiterhin verletzen. Nur Dankbarkeit befreit aus der
unheilvollen Logik der Gier. Nichts ist selbstverständlich. Ich habe mir angewöhnt, wichtige Gespräche und konfliktträchtige Begegnungen mit einem Dank zu beginnen. Auch eine Beichte beginne ich mit einem rückblickenden Dank. Es gibt so viel überraschend Gutes und Positives, das wir all zu leicht übersehen. Und – es ist eine Selbsttäuschung, dass wir nur Opfer der Umstände und Verhältnisse wären und womöglich die Anderen, der Ehepartner, die Nachbarn und Arbeitskollegen allein Schuld hätten an unserem Unglück. Undankbarkeit ist lieblos.
Mut zum realistischen Hinschauen
Viele Formen der Lieblosigkeit schleichen sich ganz still und leise ein. Sie trüben unsere Beziehungen, machen uns gereizter, unverträglicher und
nachtragend. Wie eine Fensterscheibe meist nicht durch einen großen Dreck verunreinigt wurde, sondern durch alltäglichen Feinstaub, so
verschmutzt jede Form der Lieblosigkeit die Klarheit unseres Blicks. Durch die trübe Scheibe hindurch betrachten wir dann unsere eigenen Fehler
als Probleme der Nachbarn. Die Projektion funktioniert. Was im Kleinen gilt, wird im Großen verheerend. Viel Bereitschaft zur Empörung liegt in
der Luft. Es scheint ein Sport der Massen, mit dem Finger auf andere zu zeigen, Skandale genüsslich aufzublähen und mit pharisäischer Manier
das Versagen anderer zu kommentieren. Mit dem Wort „Shitstorm“ ist treffend benannt, in welche Klimazone wir dabei gesellschaftlich geraten.
„Kehrt um!“ ruft uns Jesus zu und lädt uns ein, seinem Weg der achtsamen Liebe zu folgen.
Verharmlosen ist gefährlich
Es ist eine beschämende Altlast unserer Kirche, den Menschen oftmals nur ihre Sünden vorgehalten zu haben, noch dazu krampfhaft fixiert auf
das sechste Gebot. Das Befreiende der Frohen Botschaft Jesu ist dabei oft auf der Strecke geblieben. Vielen ist damit auch der Zugang zum
Bußsakrament verdorben worden. Vertrauen muss behutsam wieder aufgebaut werden. Das JA Gottes zum konkreten Menschen mit seinen Wunden und Belastungen kommt allen menschlichen Bemühungen zuvor. Jesus sagt: „Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid!“ Unter dieser
Voraussetzung ist ein klares Benennen von Schuld und Sünde notwendig und heilsam. Es wäre eine Verharmlosung, nur von Fehlern und
Schattenseiten zu sprechen. Sünde kommt vom Wort „sondern“, absondern, getrennt sein. Gemeint ist damit immer eine gestörte Beziehung – zu sich selbst, zum Nächsten, zur Schöpfung und zu Gott. Sünde ist ein vorsätzliches NEIN zum Leben. In diesem Sinn können auch Gleichgültigkeit und Ignoranz gegenüber dem Schicksal anderer, Sünde sein. Wir bleiben einander schuldig, was wir geben könnten: Aufmerksamkeit, Wertschätzung und Hilfe.
Gottes Auftrag vor Augen
Der wichtigste Motor auf dem Weg der Versöhnung ist die Freude. Denken wir an Zachäus. Nachdem ihn Jesus angesprochen hat, beginnt er zu
laufen. Mit Freude nimmt er den unerwarteten Gast bei sich auf. Seine Freude wächst aus der Erfahrung, angenommen und geliebt zu sein –
trotz aller Schuld. Wer Ähnliches erlebt hat, lässt krampfhaft errichtete Fassaden fallen. Auch der Drang zur Selbst-Lossprechung fällt dann weg.
Ehrlichkeit macht uns menschlicher. Vielleicht starren wir bei unserer Gewissenserforschung oft zu sehr auf Vergangenes. Wir sollten den Blick
Jesu wahrnehmen und nach vorne schauen. Folgende Fragen könnten dabei helfen: Wie möchte ich als Mensch und Christ leben? Was gibt
meinem Leben Sinn, was ist mein Auftrag? Umkehr ist doch immer auf Zukunft ausgerichtet. Mit diesem Perspektivenwechsel fällt einem vielleicht
auf, dass man sich in einem kleinkarierten Denken verfangen hat oder im narzisstischen Kreisen um die eigene Befindlichkeit. Versöhnung befreit.
Barmherzigkeit schenkt neue Freiheit
Der Verlorene Sohn, der aus selbst verschuldetem Elend heimkehrt, wird vom Vater mit größter Herzlichkeit empfangen (Lk 15). Er umarmt ihn,
obwohl er noch nach Schweinetrog stinkt. Deutlicher kann das JA Gottes zum Menschen, der versagt hat, nicht ausgedrückt werden. Wirkliche
Versöhnung hat die Qualität dieser tiefen und von Herzen kommende Umarmung. Sünde und Unversöhnlichkeit entstellen den Menschen, die
Liebe bewirkt das Gegenteil. Niemals ist ein Mensch schöner, als wenn er Vergebung annimmt oder vergibt. In der Beichte geht es deshalb vor al-
lem darum, sein Herz vor Gott auszuschütten. Das Bekenntnis der Schuld kommt an zweiter Stelle. Gott weiß, was uns nottut. Seine zärtliche Liebe
macht einen Neubeginn möglich. „Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!“ (Joh 8,11) Jesus sagt dies der
Ehebrecherin zu und rettet damit ihr Leben, ja er macht alles von Grund auf neu.
Versöhnung schafft neue Lebensqualität
Ein versöhnter Mensch lebt gelassener und fröhlicher, weil er seine eigenen Grenzen und Schwächen kennt und von Gottes Barmherzigkeit
selbst überrascht wurde. Aus dem verdammten Teufelskreis des Beschuldigens und Verurteilens ist er durch den Mut zur Wahrheit entkommen.
Vergebung ist kein billiges „Schwamm-Drüber“. Vergebung schenkt jedoch einen inneren Frieden, der uns zur „Abrüstung“ drängt und die
Waffenkammer der uralten Vorwürfe ausräumen lässt. Bei verhärteten Fronten kann das dauern. Auch Kränkungen brauchen Zeit, um ausheilen
zu können. Versöhnte Menschen finden zu einem neuen Lebensstil – achtsamer und maßvoller gehen sie mit den begrenzten Ressourcen um.
Sie schützen das Leben, weil es das größte Geschenk Gottes ist. Sie tragen zu einem neuen sozialen Klima bei, weil sie die giftigen Emissionen
verletzender Worte radikal reduzieren. Sie begegnen ihrer Umgebung mit neuer Aufmerksamkeit. Versöhnte Menschen leben nicht nur für
sich selbst – sie sind vielmehr Hörer, Verkünder und „Täter“ der Frohen Botschaft.

Für den heilsamen und befreienden Dienst der Versöhnung erbitte ich allen den Segen unseres barmherzigen Gottes
+Hermann Glettler
DIÖZESANBISCHOF VON INNSBRUCK